Die Zeit, die am Ende des Lebens als wesentlich und erfüllt dasteht, ist nur die, die wir intensiv erlebt haben. Viele Zeitperioden, die eher mechanisch wiederholend dahin gingen, schrumpfen zusammen, sind nicht mehr erinnerbar und versinken damit in die Nichtexistenz.
Was zählt, was bleibt, sind die bewusst, gegenwärtig gelebten und erlebten Augenblicke des Lebens. Wenn wir uns fragen, wie wenig Zeit des Lebens wir wirklich [in diesem Sinne] gelebt haben, wird uns das möglicherweise tief erschüttern.
Fundstelle: Jeder Tag ist kostbar – Daniela Tausch-Flammer und Lis Bickel
Ich weiß nicht wie es dir mit diesen Zeilen geht. Doch mich haben sie regelrecht eingefangen und ich denke darauf herum. Wie viel Zeit erleben wir wirklich intensiv? Und was heißt schon ‘intensiv’? Das Bertelsmann Wörterbuch sagt dazu folgendes:
intensiv: lat. intensus „heftig, stark, gespannt, aufmerksam”, zu intendere „nach etwas streben, sich bemühen, (an ein Ziel) zu gelangen suchen”
Schon das erste Wort “heftig” ist ein deutlicher Hinweis auf eine hohe Beteiligung des inneren Empfindens. Wenn etwas heftig ist, dann macht es etwas mit uns, bewegt uns im wahrsten Sinne und verankert uns im Jetzt.
Interessant finde ich auch die Weiterleitung zu “nach etwas streben”. Wenn wir also intensiv leben und erleben, streben wir nach etwas. Ohne jetzt gleich einen Leistungsgedanken mit dem Begriff “streben” verbinden zu wollen, ist es doch interessant, dass eine “Strebe” auch ein Bauteil ist, eine Stütze.
Ist es nicht genau das, was uns in unserem Alltag, der sich so oft zu wiederholen scheint, fehlt?
Eine Stütze, eine Leitlinie, ein Beteiligtsein und nicht nur anwesend sein?
Foto von Alex Guillaume auf Unsplash
Was bleibt?
Wenn du allein einen Blick auf die vergangenen knapp sechs Monate deines Lebens wirfst, wie viel Zeit davon hast du wirklich intensiv gelebt? An was kannst du dich erinnern? Welche Wegmarken kannst du ausmachen?
Oder verschwimmt alles zu einer grauen einheitlichen Suppe aus aufstehen, in die Arbeit gehen, seinen Job machen, wieder heim kommen, familiäre Angelegenheiten regeln, essen, schlafen gehen und wieder von vorne?
In Gesprächen werde ich an dieser Stelle fast regelmäßig gelyncht, ob meiner Fragen… Und es spielt keine Rolle, ob das Menschen sind, die Kinder haben oder welche die keine haben, dafür einen anstrengenden Job oder oder oder…
Es geht immer ein Aufschrei durch die Runde, der meist in Aussagen gipfelt wie “ich bin halt nun mal darin eingebunden”, “was soll ich denn machen, ich habe ja keine Wahl”, “ich kann mir kein Kürzertreten leisten”, “das ist halt im Moment so, da kann ich auch nicht einfach so raus”, “wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich auch anders” usw. usw. usw. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Und doch lasse ich meist nicht locker. Denn mich interessiert, was Menschen wirklich als wesentlich in ihrem Leben empfinden. Wann sie sich selbst wahrhaftig spüren, mit sich selbst im reinen sind und das Leben in sich pulsieren spüren.
Dadurch dass wir in unserer Zeit fast keinen Zugang zum Tod haben, ihn aus unserem Leben ausklammern und uns auch nicht mit unserem (so sicheren) Ende beschäftigen wollen, fehlt uns ein wichtiger Bestandteil, der uns unserem eigenen Leben näher bringen würde.
Die Gewissheit, dass alles endlich ist.
Das ist eines der ganz wenigen sicheren Dinge in unserem Leben, dass es endlich ist – ein Ende haben wird. Was wir bis zu diesem Ende aus unserem Leben machen, geben wir viel zu oft in andere Hände.
Unsere Wertigkeit hängt viel zu oft von dem Erfolg ab, der durch die Augen anderer definiert wird. Wir kümmern uns um das Wohlergehen unserer Lieben und vergessen dabei viel zu häufig unser eigenes.
Oft wissen wir überhaupt nicht mehr, was uns selbst wirklich gut tut, durch was wir uns ganz für uns selbst lebendig fühlen.
Mit welchem Gefühl möchtest du diese Welt verlassen?
Eine schwere Frage, ich weiß. Doch nichtsdestotrotz liegt darin die Antwort für ein als wesentlich erlebtes Leben.
Führst du das Leben das “dir gemäß” ist?
Die Autorinnen aus dem o.g. Buch Jeder Tag ist kostbar empfehlen, sich behutsam mit einfachen Gedankenübungen diesem Thema zu nähern.
Eine dieser kleinen Übungen, die sehr viel Kraft entfalten kann, ist eine einfache Frage. Eine Frage die du – am besten schriftlich – beantwortest. Spontan und immer wieder. Ein paar Tage oder sogar Wochen hintereinander.
An dieser Stelle möchte ich dich einladen, dir etwas zum Schreiben zu nehmen und diese Frage gleich jetzt beginnen zu beantworten:
Wer bin ich….?
Halte fest, was dir dazu einfällt. Ohne zu zensieren, kritisieren oder etwas besonderes schreiben zu wollen.
Lass deine Gedanken einfach über deinen Stift auf’s Papier fließen. Lies was vor dir entsteht und spüre den Gefühlen nach, die dabei in dir hochkommen. Auch wenn du vielleicht anfangs Schwierigkeiten haben solltest, dir nichts Rechtes einfallen mag, lies immer wieder die Frage “Wer bin ich…?”
Wenn du möchtest kannst du deine Emotionen zu Papier bringen, die du zu fühlen beginnst. Mach keinen riesigen Akt daraus, sondern nimm einfach alles an, was da ist.
Machst du dies einige Tage oder auch länger – die Autorinnen empfehlen abends mit dieser Frage einzuschlafen und gleich nach dem Aufwachen darüber zu schreiben – wirst du merken, dass sich deine Antworten ändern. Du gelangst Stück für Stück zu deinem Wesenskern.
Deine ganz persönlichen Antworten auf diese Frage können zu einem Überdenken deines Lebens führen, einem Nachspüren, ob du das Leben führst, was dir gemäß ist.
Komm dir näher
Wenn du willst, kannst du beginnen, das, was dir fehlt, behutsam zu integrieren, Ideen dazu zu entwickeln und das was dir nicht entspricht, langsam zu reduzieren.
Schauen wir uns die Antworten an, die auf die Frage Wer bin ich anfänglich auftauchen, sind es oft Antworten die mit unserer “Klassifizierung” und Identität zu tun haben. Wir sehen uns als Frau/Mann, als Mutter/Vater, als Tochter/Sohn, Freundin, Kollegin, Chefin, Arzthelferin, Ingenieurin.
In einem weiteren Schwung kommen oft Gedanken die damit zu tun haben, was wir tun. Wer bin ich? Torwart, Schachspielerin, Tennisspielerin, Bastlerin, Leserin.
Doch all das ist immer noch die Oberfläche. Interessant wird es, wenn wir tiefer vordringen können. Wenn es nicht mehr Ein-Wort-Antworten sind, sondern wir beginnen Beschreibungen zu verfassen.
Ich bin jemand der anderen gern etwas beibringt. Ich bin ein Mensch, der gern allein ist. Ich bin eine Tochter, die ihre Mama vermisst. Ich bin eine Träumerin, die es liebt sich neue Projekte zu überlegen.
Siehst du, worauf das hinausläuft?
Wir sind so vieles und doch nehmen wir in unserem Alltag so wenig davon wahr. Wir geben uns nicht den Raum, all das, was wir sind, ans Licht zu holen. Das intensive Erleben, von dem im Eingangszitat die Rede war, bedingt jedoch, dass wir uns lebendig fühlen und eins sind mit uns.
Wie oft entscheiden sich Menschen für einen Berufszweig, eine Branche, eine Karriere, weil sie denken, dass es das Richtige ist. Nur um später festzustellen, dass sie sich in einem Hamsterrad gefangen fühlen und nicht wissen, wie sie ausbrechen sollen und keine Idee haben, wohin sie ausbrechen sollen.
Erst wenn wir wirklich wissen, wer wir sind, was uns wirklich wichtig ist, wie wir ticken, was uns hindert am Leben und was uns aufblühen lässt, können wir bessere Entscheidungen für unser Leben treffen.
Das gelingt dann, wer wir wissen, wer wir sind. Der Spruch über dem Orakel von Delphi wird nicht umsonst so oft verwendet:
Erkenne dich selbst.
Erkenne, wer du bist. Wirf einen zutiefst ehrlich Blick auf dich und dein Leben. Hör auf dir etwas vorzumachen, schau hin, spür hinein und nimm alles wahr.
Unzufriedenheit und unglücklich sein speist sich oft aus der Quelle, des gegen-sich-lebens. Das müssen keine großen Dinge sein, sondern das geht auch im Kleinen.
Wenn mir wichtig ist, dass es im Urlaub die Möglichkeit zum Rückzug für mich gibt und Stille, dann muss ich meinen Urlaubsort danach auswählen und kann nicht immer anderen zuliebe etwas mitmachen, das gegen das “Wer bin ich?” läuft.
Halte dein Leben fest
Ein weiterer Aspekt aus dem Zitat rüttelt mich immer wieder auf.
Zeiten die sich gleichen, in denen immer wieder das gleiche abläuft, verschwinden aus der Erinnerung und werden zur Nichtexistenz.
So viele Arbeitswochen schrumpfen in der Rückschau zusammen auf eine nicht greifbare, vage Suppe. Je automatischer wir durch unser Leben gehen und je weniger Momente es gibt, die wir intensiv erleben, umso weniger gibt es zu erinnern.
Leider verschwinden auch oft die lebendigen Momente die es gab, wenn wir sie nicht bewusst wahrnehmen. Vielleicht sogar festhalten und konservieren. Wie das Matthew Dicks in seiner homework for life anregt. Er nennt das die “storyworthy moments” des Tages. Diese erzählwürdigen Momente gilt es zu sammeln und festzuhalten. Was hat diesen Tag von allen anderen unterschieden? Das kann ein kleiner Moment gewesen sein oder eine Begegnung, alles was an diesem Tag besonders ist.
Ich praktiziere das seit einigen Jahren und habe festgestellt, dass das Leben plötzlich viel reicher zu werden scheint.
Obwohl ich auch volle Tage habe und mit Sicherheit einiges davon mechanisch abläuft. Allein nur dadurch, dass ich mir den Moment nehme, um nach dem erzählwürdigen Moment des Tages zu suchen und ihn in ein paar Worten festzuhalten.
Wenn ich merke, dass mir partout nichts einfallen will, weiß ich auch, dass ich den heutigen Tag abgespult habe, ohne so richtig anwesend zu sein. Oft sind das Tage, die von oben bis unten voll sind mit Terminen, Gesprächen, Fahrten und ich kaum zum Verschnaufen komme.
Das nehm ich inzwischen als wichtiges Signal dafür, dass ich den nächsten Tag nicht so gedrängt verbringe, mir immer wieder ein paar Minuten nehme, um mich wahrzunehmen, meine Umwelt wahrzunehmen, das Leben wahrzunehmen.
Oft wirkt das wie ein Türöffner, dass meine Aufmerksamkeit geschärfter ist und das Leben sich wieder verlangsamt.
Spür das Leben in dir
Erkennen wir, wer wir sind, lernen unser Leben darauf auszurichten, spüren wir das Leben fließen in uns. Weil wir gegenwärtig sind, wird das Leben reich. Reich an Erlebnissen, an Gefühlen, an Tiefe, an Glück und an Dankbarkeit.
Es ist kostbar, das Leben. Doch das wird dir nur bewusst, wenn du deine Gegenwärtigkeit pflegst und hegst. Dazu braucht es ein immer wieder bewusstes Innehalten. Das geht nicht in Hetze.
Beginne noch heute damit, dir diese Frage “Wer bin ich?” zu beantworten. Mach es zu einem Experiment. Lass dich von dir selbst überraschen.
In diesem Sinne wünsche ich dir, dass du dem Leben – das dir selbst entspricht – immer näher kommst.
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