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Wir sind alle schnell unterwegs. Mit dem Auto, mit dem Rad, zu Fuß, in Gedanken, einfach überall in unserem Leben. Wir sind inzwischen auf Geschwindigkeit konditioniert, durch unsere immer schneller werdende Welt und die Technik die uns antreibt, weil sie so vieles möglich macht.
Doch wahrnehmen tun wir das Leben dann nicht mehr wirklich. Es rauscht an uns vorbei, Menschen rauschen an uns vorbei, wir nehmen nicht mehr wirklich wahr, was gerade um uns passiert und was gerade in uns passiert.
Es ist höchste Zeit wieder auf die Bremse zu treten.
Es gibt eine Phase im Leben, in der oft alles langsamer wird. In der letzten Phase eines Lebens. Meine Mama wird dieses Jahr 85 und mit ihr habe ich die Langsamkeit als etwas sehr Wertvolles wieder entdeckt.
Wir haben im letzten Jahr einen wunderbaren Urlaub miteinander verbracht. Eine Reise nach Malta. Es war ihr Wunsch und da sie immer gern gereist ist – wenn auch nie soweit – hat sie sich das allein nicht mehr zugetraut. Es waren 10 Tage die wir miteinander auf dieser Reise verbracht haben. Ganz eng verbracht haben. Und ich hab auf dieser Reise so unendlich viel gelernt von ihr.
Bildquelle: Photo by Jason Blackeye on Unsplash
Wieder lernen langsam zu gehen
Doch lass mich von vorne beginnen. Meine Mama ist nicht mehr so flott unterwegs wie früher. Sie geht mit Stock und das sehr langsam. Allein das ist das beste Lehrstück für mich überhaupt. Denn ich muss mich ihrer Geschwindigkeit anpassen. Was anfangs ganz ungewohnt für mich war, doch nach den vielen Jahren in denen ich meine Mama inzwischen begleite ist das vollkommen normal geworden.
Das Interessante ist dabei wie sich meine Wahrnehmung der Welt sofort verändert, wenn ich mich ihrer Schrittgeschwindigkeit anpasse. Mir fällt da erst richtig auf, wie schnell alle Menschen um uns herum unterwegs sind, keinen Blick für einander haben, einander anrempeln und kaum Entschuldigung sagen. Es ist ein stetes Hetzen.
Das langsame Gehen verringert auch die Geschwindigkeit meiner Gedanken im Kopf. Wenn man erst mal angenommen hat, dass es halt jetzt langsam geht, braucht man sich auch im Kopf nicht mehr hetzen, denn das würde nichts nützen, deshalb geht es auch nicht schneller voran.
Es bringt nichts darüber zu seufzen, dass es so langsam geht oder gar meine Mama anzutreiben. Nein, wieder zu lernen, sich dieser Langsamkeit hinzugeben ist das wahre Geheimnis.
Erst in der Langsamkeit des Gehens werde ich mir meines Körpers wieder bewusst. Ich rutsche gewissermaßen mit meiner Aufmerksamkeit aus meinem Kopf hinunter in meinen Körper.
Ich spüre meine Füße viel bewusster, wenn sie den Boden berühren und ich fühle mich wohler, weil ich nicht so angespannt bin. Das ist mir erst bewusst geworden, dass mein Körper durch die ständige Geschwindigkeit auch immer angespannter ist. Das alles darf nun losgelassen werden.
Langsamkeit lässt dich anders sehen
Das langsame Gehen ermöglicht auch ein ganz anderes Sehen. Ich bin immer wieder erstaunt, welche Kleinigkeiten meiner Mama am Wegesrand auffallen. Was für ein hohe Wahrnehmung sie für Farbtupfer aller Art hat. Wer ein hübsches Kopftuch auf hat oder eine nette Tasche.
Sie sieht das alles mit Freude. Sie kann sich an diesen Dingen, die sie sieht, einfach erfreuen. Ohne sie haben zu müssen, ohne neidisch zu sein, einfach nur darüber freuen, schöne Dinge zu sehen.
Und am allerschönsten ist es, wenn wir in der Natur unterwegs sind. Am liebsten auf Wegen, auf denen regelmäßig eine Bank zum Ausruhen zu finden ist. Und dort sitzen wir dann immer eine Weile ohne groß etwas zu sagen und schauen beide. Seit dem ich mit meiner Mama auf diese Art unterwegs bin, hab ich die Wolken für mich wieder entdeckt.
Ihnen zuzusehen, wie sie sich langsam verändern, übereinander schieben, auseinander driften, in verschiedensten Formen zusammenkommen, ist unglaublich faszinierend.
Doch im Alltag haben wir für so etwas keinen Blick. Die Mama und ich entdecken immer die verrücktesten Figuren in den Wolken, staunen, wenn die Sonne bei ihrem Untergehen, sie in alle rötlichen Farben taucht, die man sich nur vorstellen kann und schwelgen in ihrer unendlichen Veränderlichkeit.
Das mag sich alles etwas seltsam anhören und ich kann das gut verstehen. Denn dieses Wolkenschauen ist etwas das mit Geschwindigkeit nicht geht. Dafür muss man anhalten und sich die Zeit nehmen. Dafür muss man am besten still sitzen und einfach schauen. Ohne im Kopf die nächsten Termine zu planen oder an Projekten herum zugrübeln.
Einfach nur sitzen und schauen. Wer sich darauf einlässt wird feststellen, was für eine beruhigende und gleichzeitig belebende Wirkung das Wolkenschauen auf einen hat.
Wir sind Teil der Natur
Es ist ein Naturphänomen. Und wenn wir es auf diese Weise bewusst wahrnehmen, können wir auch eine Verbindung spüren. Denn auch wir sind Teil der Natur. Wir sind kein Teil von Computern und Technik. Wir sind Teil der Natur und mit dieser müssen wir uns regelmäßig verbinden. Denn das ist es was wir sind. Wir sind natürliche Wesen. Und als solche brauchen wir diese Verbindung.
In den Himmel zu schauen kann uns noch einiges andere für unser Leben bieten. Eines Sache davon kommt unseren Augen zu Gute und gleichzeitig auch unserem Denken.
Weite deinen Blick und damit deine Gedanken
Doch lass uns mit den Augen anfangen. In unserem Alltag sind wir fast ständig auf die kurze Sicht gepolt. Wir sitzen am Computer, haben das Handy vor der Nase, schauen in den Fernseher, führen Gespräche, sitzen in Meeting-Räumen. All das sind Dinge die nicht unbedingt mit einer Sicht in die Weite zu tun haben. Sie finden alle nah bei uns statt und das ist für unsere Augen anstrengend.
Was wir selten tun, ist, in die Weite zu schauen. Denn dazu müssten wir uns draußen bewegen, nicht mitten in der Stadt und nicht in Räumen. Draußen in der Natur in der wir weit schauen können. Dabei können sich unsere Augen entspannen und loslassen.
Wenn wir in die Weite schauen, dann schauen wir auch in eine unbegrenzte Welt. Wir sehen zwar den Horizont, doch wir wissen, dass es danach noch weiter geht. Das ist das Gegenteil von einem begrenzten Schauen, weil wir uns immer nur auf die Nähe fokussieren.
Das in die Weite schauen, kann uns ganz andere Gedanken geben. Wir können über uns selbst hinausdenken, wir können loslassen und einfach nur die Weite in uns auf nehmen.
Vor allem wenn man in der Natur ist, kann es etwas sehr Heilsames haben, sich nur dem Blick in die Weite hinzugeben. Wir können uns von inneren Begrenzungen verabschieden, wenn wir auf einem Berg stehen und ins weite Land schauen.
Ich werde immer ganz traurig, wenn ich die Berge gehe und am Gipfel die Menschen das gleiche tun sehe, wie daheim auch.
Sie haben ihr Handy in der Hand, machen ein Foto nach dem anderen, Selfies mit Gipfelkreuz und ohne, schicken die Bilder natürlich gleich an x Plattformen, setzen sich vielleicht noch einen Moment hin und dann geht’s auch schon zur Hütte um was zu essen und zu trinken. Dabei noch ständig am Reden und wieder haben wir was auf der Liste abgehakt.
Das ist konsumieren, das ist nicht wahrnehmen.
Wenn ich ständig nur durch eine Kameralinse oder durch ein Smartphone auf die Welt schaue, sehe ich die Welt nicht mehr.
Ich sehe nur den Ausschnitt und wie ich ihn am besten darstellen und verbessern könnte, damit das Bild ja auch gut rüberkommt, wenn es gleich auf Instagram online geht.
Sehen bedeutet still werden
Wir sehen nicht mehr. Um wirklich zu sehen, müssen wir ruhig sein, sitzen und schauen. Mehr nicht. Nicht reden, nicht was in der Hand haben, nur sitzen, ruhig sein und schauen.
Wer sich darauf einlässt, der wird erfahren, wie innere Ruhe in einem einkehrt.
Wie die Erhabenheit der Natur, der Weite sich ins Herz gräbt und eine stille Freude hinterlässt. Wir werden dadurch Teil dessen was wir sehen.
Mit allem anderen distanzieren wir uns davon. Nur wenn wir still werden und schauen, können wir es in uns aufnehmen und ein Teil davon werden.
Weißt du wie wertvoll und wichtig das für uns ist? Hast du eine Ahnung davon, was es Positives mit Menschen macht, die sich darauf einlassen?
Wir nehmen uns nicht mehr so wichtig, wir empfinden uns dann nicht mehr als Nabel der Welt – was wir definitiv auch nicht sind – wir entfernen uns von alltäglichen Problemen und verbinden uns wieder mit dem Fluss des Lebens. Des Lebens das wird und wieder vergeht.
In der Stille sitzen und schauen ist keineswegs Zeitverschwendung. Im Gegenteil es verlangsamt die Zeit. Es macht uns weit und entfernt innerliche Einschränkungen. Es lässt das Geplapper im Kopf verstummen.
All das wird dir möglich, wenn du in die Langsamkeit eintauchst und das Sehen wieder lernst.
Lerne wahrhaft zu sehen
Schau auf Kleinigkeit die dir auffallen. Auf die Gräser, die zu deinen Füßen sind, welche Blumen blühen, welche Farben sie haben, welche Tierchen überall herum sausen.
Wann hast du das letzte Mal eine Blume wirklich genau betrachtet? Welche Form ihre Blüten haben, welches Muster sie innen aufweist, wie sich die Blätter anfühlen. Wie viel es zu entdecken gibt, wenn man beginnt wieder ganz bewusst hinzusehen. Welcher Reichtum sich auftut.
Wenn wir die Natur auf diese Weise betrachten, dann beginnen wir auch die Menschen wieder anders zu betrachten.
Wann hast du deinen Partner oder deine Partnerin so genau betrachtet? Wie hat sich das Gesicht verändert? Welche Fältchen sind vielleicht dazu gekommen? Wie verändert sich die Augenfarbe im Licht des Tages?
Wir sehen uns gegenseitig ganz selten wirklich an. Wir taxieren einander, geben Urteile ab über Kleidung und Frisur, doch wirklich ansehen tun wir uns kaum.
In der Phase der Verliebtheit konnten wir nicht genug vom anderen bekommen und ihm oder ihr lang in die Augen sehen. Klar geht das nicht für immer, wir haben ja auch noch was anders zu tun ;) doch so ab und zu den anderen wieder genau zu betrachten, Veränderungen wahrzunehmen, Details zu erfassen und den anderen wirklich wieder zu sehen, ist so wertvoll.
Wer auf diese Weise liebevoll betrachtet wird, fühlt sich vielleicht anfangs komisch, doch es kann passieren, dass bereits nach kurzer Zeit Tränen fließen, weil man so sehr das Gefühl hat, das Gegenüber sieht einen wirklich. Das ist etwas das man nur erfahren kann, wenn man es macht und auf der anderen Seite zulässt.
Das geht nur in Langsamkeit und Ruhe. Sehen heißt verstehen, sagt man.
Werde wieder langsamer in deinem Tag, schau wieder genau hin, nimm dir Zeit für’s schauen.
Betrachte die Natur, nimm sie wahr, schau dir Wolken an und schau in die Ferne. Und dann nimm auf diese Weise auch die Menschen in deinem Leben wieder wahr. Wie es in dem Film Avatar so schön heißt:
Ich sehe dich
Was kann es Wertvolleres geben als gesehen zu werden. Wahrhaft gesehen zu werden.
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